„Ich bin Hakan Demir. Meinen Mitschüler*innen habe ich damals erzählt, mein Vater sei Chemikant. Das war gelogen. Ich schämte mich für seinen Beruf. Denn ich wollte dazu gehören.
Mein Vater ist mit 14 Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. In ein Land, dessen Sprache er nicht konnte. Trotzdem schaffte er den Hauptschulabschluss, fand einen Job als Facharbeiter. Wir hatten immer etwas zu Essen auf dem Tisch, ich bekam Taschengeld. Kurz gesagt: Es ging uns immer gut.
Trotzdem verheimlichte ich seinen Job, als ich aufs Gymnasium kam. Ich war fast nur umgeben von Schüler*innen, deren Eltern Architekt*innen, Anwält*innen oder Ärzt*innen waren. Ich haderte mit mir, hatte Angst vor abfälligen Kommentaren. Und davor, ausgegrenzt zu werden. Ich wollte mich schützen, also gab ich meinen Vater als Chemikanten aus. Ich redete mir ein, dass das nur halb gelogen sei, immerhin arbeitete er bei einem Chemiekonzern. Meinen Eltern erzählte ich das natürlich nicht.
Ein paar Jahre später fuhr ich zur Dienststelle meines Vaters, um ihm sein Mittagessen zu bringen. Es war das erste Mal, dass ich ihn auf der Arbeit besuchte. Ich wartete an einem Drehkreuz auf ihn, beobachtete ihn aus der Ferne: Er war von Kopf bis Fuß dreckig, übersät mit Farbe. Er sah erschöpft und müde aus. Schlagartig verstand ich, was er da jeden Tag tut. Wie hart er arbeiten musste, damit es uns gut ging. Wie viel er gab, um das Land zusammenzuhalten. Und ich wurde das Gefühl nicht mehr los, dass Menschen, die so hart arbeiten müssen, doch eigentlich viel mehr verdient haben. Aus Scham wurde Stolz.
Heute bereue ich, dass ich damals gelogen und die Tätigkeit meines Vaters verschwiegen habe. Doch ich habe auch Verständnis für mein jüngeres Ich, denn ich war ein Spielball der Gesellschaft. Uns wird ja von klein auf vorgegeben, welche Jobs „toll“ sind. Dass Erfolg und Anerkennung mit dem Job zusammenhängen. Dabei vergessen wir aber oft: Natürlich brauchen wir Ärzt*innen, Architekt*innen und Anwält*innen. Wir brauchen aber eben auch Handwerker*innen, Pflege- und Reinigungskräfte. Nur das Gesamtbild führt dazu, dass unser Land erfolgreich ist.
Kein Kind der Welt sollte sich dafür schämen müssen, welchen Beruf seine Eltern ausüben. Dafür brauchen wir einen starken Sozialstaat, der JEDEN Job anerkennt. Wir brauchen einen Mindestlohn von mindestens 12 Euro, damit jede Familie finanziell abgesichert ist. Wir brauchen einen bundesweiten Mietendeckel, damit jeder Vater, jede Mutter, jedes Kind in einer bezahlbaren Wohnung leben kann. Wir müssen besser werben für die systemrelevanten Berufe.
Das sehe ich als meine Aufgabe. Deshalb bin ich vor 10 Jahren in die SPD eingetreten, die genau für diese Dinge kämpft. Sie möchte etwas verändern. Sie bringt Menschen zusammen. Und das ist enorm wichtig. Denn nur so sehen Kinder von klein auf, dass alle Menschen zu unserem Gemeinwohl beitragen.“
+++ Wir sind rund 400.000 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Und jede*r von uns bringt seine eigene, besondere Geschichte mit. Einige davon erzählen wir in unserem Projekt #1von400Tausend. +++